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Herzlich willkommen!

Herzlich willkommen!

Die Idee zu jeder neuen Show beginnt für mich mit einer Inspiration: für eine Geschichte, für eine Musik oder für eine bestimmte Szene. Um diesen ersten kreativen Funken bildet sich nach und nach eine Erzählung, die im Zusammenspiel mit Musik, Requisiten, Licht und natürlich den Tänzern, den Reitern und Pferden zu einer Einheit verschmilzt.

Die Inspiration zu MONDWIND – Der Zaubermantel gaben mir unsere Kostümbildnerinnen Heike Hartmann und Isa Mehnert, mit denen ich schon seit über 20 Jahren zusammenarbeite. Eines Tages im Herbst besuchte ich sie in ihrer Schneiderwerkstatt, wie schon viele Male zuvor, doch dieses Mal war etwas anders. Eine geheimnisvolle, fast verzauberte Stimmung lag über dem Atelier. Still und lange beobachtete ich sie bei ihrer Arbeit. Wie meisterhaft sie mit ihren riesigen Scheren durch die Stoffe glitten, wie gekonnt sie mit Samt und Tüll hantierten und wie flink sie mit Nadel und Faden auseinander Geglaubtes wieder zusammenfügten. Eine goldene Herbstsonne brach sich in den milchigen Sprossenfenstern der Werkstatt. Ihr Schein fiel auf einen alten Umhang, der unscheinbar auf einem der Tische lag. Es muss eben dieser Moment gewesen sein, da mir das Bild eines magischen Mantels in den Sinn kam. Ein Mantel, der wärmt – nicht nur seinen Träger, sondern auch die ganze Welt. Einen, der uns alle vor der Kälte, der Dunkelheit und den Stürmen des Lebens beschützt. „Der Zaubermantel“ war geboren!

MONDWIND – Der Zaubermantel ist nicht nur ein ganz besonderes Pferdshow-Erlebnis. Es ist eine Hommage an unsere Ausstattungsabteilung, die uns seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrer Leidenschaft und ihrem meisterhaften Können immer wieder aufs Neue in märchenhafte Welten entführt. Mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zauberhafte Momente in unserer Show.

Ihr Holger Ehlers


Der Zaubermantel

Eine Geschichte von Holger Ehlers, aufgeschrieben von Franziska Ehlers

Der Zaubermantel ist nichts weniger als das Leben selbst. Sein schimmernder Stoff vereint Licht und Dunkelheit, Entstehen und Vergehen, Sichtbares und Unsichtbares. Seine seidenen Fäden kreuzen sich wie die Breitengrade der Welt und umfangen schützend unser Leben. In ihnen vereint sich was gegensätzlich erscheint, in ihnen offenbart sich die ewig währende Einheit. Finden Zaubermantel und Träger zusammen, erstrahlt die Welt in harmonischer Balance.

Der Schneider

Schwere Wolken hängen am trüben Londoner Abendhimmel, nass und kalt zieht die Luft durch die engen Gassen der Stadt. Am Westminster Palace läuten die mächtigen Glocken den Feierabend ein und erleichtert legen Handwerker und Kaufleute ihre Arbeit nieder. Nur einer hört die Glocken nicht. Hört sie nie. Viel zu vertieft ist der alte Schneider in seine Arbeit, viel zu viel Freude hat er an seinem Handwerk. Tief im Herzen der verschlungenen Wege und Gassen brennt sein Fensterlicht heller und länger als alle anderen. Dort hat der Alte seine Schneiderwerkstatt, eine Werkstatt wie es keine zweite gibt. Herrliche Stoffe stapeln sich darin und drängen sich um den spärlichen Platz auf meterhohen Regalen. Dazwischen trappelt der Alter beschwingt hin und her, greift hier einen Stoff, fädelt dort einen Faden durchs Nadelöhr, nimmt sinnend auf seinem samtenen Schneiderkissen Platz, springt gleich wieder auf, sucht die Kiste mit der Spitze, nimmt Maß an seinem Pferd. Ja, selbst ein Pferd, den treuen Hermann, hält er sich zwischen Samt und Seide. Und während er so geschäftig seine Bahnen zieht, summt er stets sein komisches Schneiderlied:

„Schnipp und Schnapp und schnabbeldibu
In meiner Werkstatt ist niemals Ruh
Mit Faden, Nadel und schönstem Garn,
wird’s in Scheiderleins‘ Herzen warm.

Rattadierums und rutterdierams,
der Webstuhl rattert, das Schneiderlein tanzt,
bis in den frühen Morgen hinein,
dann werden die Kleider bald fertig sein.

Oh Mantel, oh Freund, schaust du auch zu?
Dank deiner Kraft schaff‘ ich im nu,
Röcke, Hemden, Mäntel, manch Socken,
Kleider, die jauchzen, singen, frohlocken,
und das nicht für Brot und auch nicht für Geld,
sondern für Freud und Fried‘ auf der Welt.

Mit seinem letzten Vers wendet sich der Schneider an seinen ständigen Freud und Begleiter – den Zaubermantel. Gefertigt aus blau schimmerndem Samt und prächtigen goldenen Säumen, verstrahlt das prachtvolle Gewand einen verheißungsvollen Zauber über die Schneiderwerkstatt. Der Zaubermantel ist keineswegs ein gewöhnlicher Mantel, sein Stoff keineswegs ein gewöhnlicher Stoff. Die Fäden, die ihm Form und Farbe verleihen, sind nichts weniger als das Leben selbst. Es sind die Fäden des Lichts und der Dunkelheit, Entstehen und Vergehen vereint und verwebt wie die Breitengrade der Welt. Der Mantel bietet nicht nur seinem Träger Schutz, er umfängt die Welt in all ihrer Gegensätzlichkeit und schenkt ihr Balance und Harmonie. Ohne den Mantel würde das Leben ins Chaos stürzen. Doch um seine schützende Zauberkraft zu entfalten benötigt der Mantel eine Verbindung zum weltlichen Leben. Er benötigt einen Träger. Und seit vielen, vielen Jahren schon hat er dazu den alten Schneider auserwählt.
Als der Zaubermantel dem Alten zum ersten Mal erschien, da machte der noch als vorlauter und hitziger Grünschnabel das Pferdegestüt seines Vaters unsicher. Aus diesen Tagen ist allerdings nicht mehr viel übriggeblieben. Nur Hermann, der Treue Hengst, der dem Alten in der Schneiderwerkstatt Gesellschaft leistet, erinnert noch an die ferne Zeit. Zwar sind Gemüt und Charakter des Schneiders noch immer voller Schwung und Tatendrang. Seine körperlichen Kräfte aber schwinden. Es ist vor allem der Zaubermantel, der dem Alten noch Lebenskraft einhaucht.
Doch ist es an der Zeit für den Mantel seinen nächsten Träger zu suchen und den alten Schneider aus dem weltlichen Leben ziehen zu lassen. Ein letztes Mal werden die beiden an diesem Abend noch zusammen tanzen, ein letztes Mal die Kraft des Mantels gemeinsam hüten und verweben. Dann, im Morgengrauen, wenn der erste Sonnenstrahl die faltige Haut des Schneiders kitzelt, dann wird der Mantel Abschied vom Schneider nehmen, und der Schneider Abschied von der Welt.

Lichtung im Wald

Weit entfernt von den trüben, nasskalten Abenden der Londoner Innenstadt, schlummert Jonathan, ein junger Landstreicher, auf einer sonnigen Lichtung und lauscht träge dem fröhlichen Vogelgezwitscher. Er ist ein Taugenichts, ein Faulenzer und Weltenbummler. Wie jeder Taugenichts hat er den Hut tief ins Gesicht gezogen, balanciert lässig einen Strohhalm zwischen seinen Zähnen und schert sich um nichts und niemanden auf der Welt. Hin und wieder zwinkert er der Vogelscheuche am Feldrand schelmisch zu, als steckten die beiden in geheimer Komplizenschaft. Unter keinen Umständen würden sie sich in ihrem einfältigen Dasein stören lassen. Und manchmal ist ihm sogar, als zwinkerte die Vogelscheuche komplizenhaft zurück. Ja mehr noch. Konnte das sein? Hatte die Vogelscheuche nicht grade einen samtgewebten blauen Mantel getragen? Aber nein, es musste ein Tagtraum gewesen sein. Die Vogelscheuche trägt nichts als ihr trockenes Strohkleid. Kurz gefesselt, von dem Trugbild überlässt sich der Taugenichts wieder seinem müden Schlummer. Erst nach einer Weile blinzelt er erneut zu der Vogelscheuche hinüber, und schreckt auf. Da ist er wieder! Ein herrlicher, prachtvoller Mantel, der die strohige Vogelscheuche königlich umfängt. Jonathan traut seinen Augen nicht. Langsam nähert er sich der Vogelscheuche mit dem Mantel. Gerade will er den rechten Ärmel berühren, da hebt die Vogelscheuche plötzlich den Arm und winkt ihm zu. Oder ist es nicht vielmehr der Mantel, der den Arm der Vogelscheuche hebt? Unsicher hält Jonathan inne. Was geht hier vor? Doch dann fasst er sich ein Herz. Nichts und niemand würde ihn, den furchtlosen und immer frohen Weltenbummler davon abhalten sich diesen schönen Mantel zu nehmen. Entschlossen greift er nach dem Gewand – und fasst in die Leere. Der Mantel ist weggeflogen! Nun schwebt er einige Zentimeter hinter der Vogelscheuche und schaut mit verschränkten Ärmeln spöttisch auf Jonathan hinunter. So etwas würde er sich nicht gefallen lassen! Wieder greift Jonathan nach dem Ärmel und ein ungleicher Kampf entbrennt zwischen dem Zaubermantel und dem Taugenichts. Mit Leichtigkeit entwischt der Mantel jeder neuen Attacke Jonathans, fliegt um ihn herum, tippt ihm schelmisch von hinten auf die Schulter und ist schon wieder davon, als Jonathan sich hektisch um die eigene Achse dreht. So rangeln die beiden einige Minuten, bis Jonathan schließlich aufgibt und erschöpft, wütend und verwirrt auf einem Stein niedersinkt. Der Mantel lässt ihn noch eine Weile schmoren. Dann fliegt er nahe zu ihm heran, klopft ihm aufmunternd auf den Rücken und bietet sich dem jungen Mann schließlich doch zum Tragen an. Jonathan ist skeptisch, muss dann aber selber über die Begegnung und seine komische Jagd auf den Mantel lachen. Galant verbeugt er sich vor dem Zaubermantel, klopft ihm ebenfalls freundschaftlich auf 4 den Rücken und nimmt sein Angebot an. Eifrig schlüpft er in die weichen, fließenden Ärmel und spürt kurz drauf einen übermächtigen Sog. Die Lichtung verschwindet und ein Tunnel baut sich um ihn herum auf. Bilder rasen an ihm vorbei, Geräusche und Lichter aus unbekannten Welten und Zeiten. Jonathan fühlt sich schwach und merkt wie die Flut des Zeittunnels ihn mit sich zu reißen droht. Rasch wirft er den Mantel ab, schwankt, keucht, findet schließlich wieder zu sich und starrt den Zaubermantel entgeistert an. Was war das für Gewand, was für Zauber hatte ihn da gerade erfasst? Der Zaubermantel erwidert Jonathans verstörten Blick ruhig, aber eindringlich. Behutsam kommt er ihm wieder näher und kehrt dabei seine Innenseite nach auen. Jetzt steht er nicht mehr in dunkelblauer, sondern in weißgoldener Pracht vor ihm. Wieder bietet er sich Jonathan zum Tragen an. Der junge Mann zögert, doch etwas an der Art wie das goldene Licht des Mantels ihm entgegen schimmert, lässt ihn ahnen, dass er sich vor dem Zauber des Mantels nicht zu fürchten braucht. Und so streift er das Gewand noch einmal über. Schlagartig erfasst ihn ein Gefühl der Schwerelosigkeit und er spürt wie eine Wolke aus weißgoldenem Licht ihn immer weiter empor trägt. Die schimmernde Wolke breitet sich aus und scheint den gesamten Horizont auszufüllen. Jonathan merkt, dass die Leichtigkeit nun auch sein Inneres erfasst. Er fühlt sich unbeschwert, glücklich. In der Ferne beginnt er eine anmutige tanzende Gestalt auszumachen. Es ist eine Frau und sie ist wunderschön. Jonathans Brust zieht sich zusammen und eine große Sehnsucht überkommt ihn. Wer ist diese Frau und wie kann er sie erreichen? Gerade will er nach ihr rufen, da löst sich der Zauber um ihn herum plötzlich auf und er steht wieder auf der Lichtung mit der Vogelscheuche. Der Zaubermantel schwebt vor ihm in der Luft und Jonathan erkennt, dass ihm eine große Reise bevorsteht. Noch begreift er nicht, was es mit dem Zaubermantel auf sich hat, ahnt nicht wohin er ihn führen wird. Doch mit der Vision der schönen Frau hat sich etwas Grundlegendes in ihm verändert. Er hat verstanden, wie leer und sinnlos seine Weltenbummlerei gewesen war. Wie egoistisch und selbstbezogen er bisher gedacht und gehandelt hat. Durch die Begegnung mit dem Zaubermantel hat Jonathan sein Dasein als Landstreicher und Taugenichts abgestreift. Er ist zum Suchenden und Liebenden geworden.

Der Alte im Baum

Jonathan möchte die Frau aus seiner Vision unbedingt wiedersehen, doch hat er keine Ahnung wo er sie finden kann. Er muss sein Vertrauen in den Zaubermantel setzen und sich von ihm weisen lassen. Also geht er einen Schritt auf den Mantel zu und nickt bedeutungsvoll zu ihm 5 herüber. Der Mantel versteht das Signal: Jonathan ist bereit für seine Aufgabe. Er winkt ihn zu sich heran und deutet auf einen alten, schrumpeligen Baum. Sogleich tritt Jonathan davor und betrachtet erwartungsvoll die verschlungene Baumrinde. Zuerst geschieht nichts und Jonathan schaut sich verwundert zu dem Mantel um. Aber der deutet nach wie vor auf den Baum und so starrt Jonathan die Kruste weiter an. Da regen sich die Holzmaserungen auf einmal. Sie winden, wenden und wölben sich, bis Jonathan überrascht in das Gesicht eines alten Mannes blickt. Es ist der alte Scheider! Der Zaubermantel hat ihn ein letztes Mal herbeigerufen, um seinem Nachfolger den Zauber des Mantels zu erklären. Der Alte hat nicht viel Zeit, das Jenseits ruft bereits nach ihm und versucht ihn endgültig mit sich hinfort zunehmen. Eindringlich und in wenigen, knappen Worten bereitet er Jonathan auf seine Trägerschaft vor.

„Junger Bursch, hör zu was ich dir sage! Der Zaubermantel ist der Mantel der Welt, der Schutz allen Lebens. Mit seinen zwei Seiten, dunkel und hell, bringt er die Kräfte des Lebens ins Gleichgewicht. Doch um seinen Zauber zu entfalten benötigt der Mantel einen Träger. Und dich hat er gewählt! Folge dem Mantel und du wirst nicht nur dein Glück, sondern das Glück der Welt begründen. Höre seinen Zauber, höre auf dein Herz und du wirst finden, was du suchst! Doch bevor du der neue Träge werden kannst, musst du meine Schneiderwerkstatt aufsuchen. Siehst du wie die Farben des Mantels verblassen? Nun, da er dich erwählt hat, wird er sich langsam auflösen und erst wieder in Erscheinung treten, wenn du ihn neu gewebt hast. Eile junger Bursch, die Zeit drängt! Ohne Zaubermantel darf die Welt nicht sein!“

Der Flug

Beklommen dreht sich Jonathan nach dem Zaubermantel um. Und tatsächlich wirken seine prächtigen Farben bereits weniger strahlend als nur wenige Augenblicke zuvor. Er muss sofort aufbrechen. „Zaubermantel, führe mich, wie kommen wir zu der Schneiderwerkstatt?“ Der Zaubermantel steigt ein wenig in die Höhe und deutet auf seinen unteren Saum. Sofort greift Jonathan danach und so wie er den Stoff berührt, hebt der Mantel sie beide in die Luft. Ein wilder Himmelsritt beginnt. Panisch krallt Jonathan sich so fest er nur kann am Saum des Mantels fest, während er im hohen Bogen er durch die Luft gezogen wird. Schon fliegen sie durch Wolken hindurch, vorbei an aufgeschreckten Vögeln, der Sonne entgegen. Jonathans anfänglicher Schwindel vergeht und langsam beginnt der wilde Ritt ihm zu gefallen. Zwar war ist er kein Taugenichts mehr, doch der Abenteurer steckte ihm nach wie vor in Leib und Seele. Und er jauchzt und johlt bei diesem Spaß. Übermütig beginnt Jonathan sich hin und her zu schwingen. Er bemerkt nicht, dass der Mantel sich dabei nicht mehr in geraden Bahnen halten kann, sieht nicht den Kirchturm, der nur wenige Meter vor ihnen aus den Wolken ragt. Nur knapp kann der Mantel an seiner Spitze vorbeisteuern, verfängt sich jedoch an deren filigranen Verzierungen. Noch ehe Jonathan ganz begreift, was geschieht, zerreißt der verfangene Stoff des Mantels am Kirchturm auf. Der Mantel fällt in sich zusammen und verliert an Höhe. Weiter und weiter sinkt er hinab, den übermütigen Abenteurer starr vor Schreck an ihn geklammert. Sinkt hinab und mitten hinein, in die dunklen Gassen des Londoner Spelunkenviertels.

Das Spelunkenviertel

Langsam rappelt sich Jonathan vom Boden auf. Der Geruch nach Bier und Schweiß nimmt ihm fast den Atem. Lautes Stimmengewirr und Wolken aus Staub und Schmutz schlagen ihm entgegen als er sich vorsichtig umsieht. Jonathan ist zwar noch nie zuvor in London gewesen, doch er errät sogleich, wo er während des Absturzes gelandet ist. Der Ruf des Londoner Spelunkenviertels ist weit über die städtischen Grenzen hinaus bekannt. Hier tummelt sich das schlimmste Pack der Stadt. Gauner und Halunken, zwielichtige Handelsleute und korrupte Wachmänner. Er muss schnellstmöglich hinausgelangen und die Schneiderwerkstatt des Alten ausfindig machen. Hilfesuchend schaut er sich nach dem Zaubermantel um. Und erstarrt. Das einstmals so herrliche Gewand liegt kraftlos und zusammengesunken im Straßenstaub. Jonathan wird das Herz schwer und er gleitet hinab zu dem Mantel. Ein langer Riss zieht sich quer über seinen zerknitterten Stoff. Was hat er getan? Wie hat er nur so leichtsinnig und unachtsam sein können? Es ist alles seine Schuld. Niemals wird er ohne die Hilfe des Mantels zur Schneiderei finden. Die Welt würde ins Chaos stürzen und er allein ist dafür verantwortlich. Während Jonathan noch seiner Verzweiflung nachhängt, werden die Stimmen um ihn herum lauter. Hufgetrappel nähert sich und eine große Unruhe macht sich in der Gasse breit. Jonathan bemerkt all dies erst, als er sich plötzlich in einem Gewirr aus Pferdehufen, langen schwarzen Umhängen und ängstlichen Rufen wiederfindet. Die Brittle Brothers! Berühmt berüchtigt für ihre Gaunereien und fiesen Späße. Rasch versucht Jonathan an den Rand der Gasse zu kriechen. Haarscharf nur verfehlen ihn die polternden Hufen und fliehende Füße. Den Mantel hält Jonathan bei seiner Flucht über den matschigen Boden fest umklammert. Noch einmal würde er ihn nicht im Stich lassen. Als er den Straßenrand erreicht, zieht er sich erschöpft an der nächsten Hauswand hinauf. Da blitzt ihm plötzlich etwas Weißes aus der Innenseite des Mantels entgegen. Es ist ein Etikett mit der Adresse der Schneiderei! Hoffnung macht sich in Jonathan breit und gibt ihm seine Kraft zurück. Er kann es noch immer schaffen. Ohne groß nachzudenken sprintet er los, die Gassen entlang, um die Ecke, hinauf und hinab, ruft im Vorbeisausen immer wieder lauthals die Adresse der Schneiderei aus und folgt aufs Geratewohl den Handzeichen und Winken der Passanten. Schon verändert sich das Bild der vorüberziehenden Straßen. Die Gesichter werden freundlicher, das Treiben bunt und geschäftig. Jonathan durchquert Märkte und Menschenmengen, wirft hier einen Korb voll Äpfel um, bringt dort eine Pferdekutsche im letzten Moment zum Stoppen. Dann werden die Straßen wieder leerer, ihre Biegungen enger und verschlungener. Ein letztes Mal noch um die Kurve – und er hat es geschafft. Jonathan steht keuchend vor dem großen, schmiedeeisernen Tor der Schneiderwerkstatt.

Weiße Orchideen

Er hat es wirklich geschafft, er hat die Schneiderwerkstatt des Alten gefunden. Was ihn hier wohl erwartet? Vorsichtig klopft Jonathan an das Tor. Nichts geschieht. Er klopft lauter, pocht, noch immer keine Reaktion. Wahrscheinlich ist niemand mehr da, seit der Alte fort ist. Jonathan drückt ein wenig gegen die schweren Pforten und stellt fest, dass sie nicht verschlossen sind. Er öffnet das Tor einen Spalt breit und horcht hinein. Da vernimmt er ein leises Singen. Eine Frauenstimme. Obwohl Jonathan die Stimme nie zuvor gehört hat, kommt sie ihm seltsam vertraut vor. Er fühlt sich zu ihr hingezogen und spürt wieder das Ziehen und die große Sehnsucht in seiner Brust. Leise betritt er den Vorraum der Werkstatt und bewundert die leuchtend weiße Orchidee, die eindrucksvoll auf einem elegant geschwungenen Empfangstisch platziert ist. Während er sich durch den Raum bewegt wird das Singen der Stimme lauter. Er öffnet die angrenzende Tür und tritt hinein. In der Mitte der Schneiderei steht eine wunderschöne Frau. Sie hat ihm den Rücken zugewendet und sortiert summend Stoffe und Spitze. Ihre Haut ist so leuchtend und schimmernd wie die der Orchidee im Vorraum, ihr weißes Gewand ebenso elegant und zart. Plötzlich hält die Frau inne, ihr Summen verstummt. Sie dreht sich herum und Jonathan sieht mitten in ihre wasserblauen Augen. Es ist die Frau aus seiner Vision. Er lässt ihren Blick nicht los und auch sie verliert sich mehr und mehr in seinen Augen. Wie von selbst bewegen sich die Liebenden aufeinander zu, greifen sich an den Händen und werden von wunderbarer Glücksseligkeit erfasst. Das weiß schimmernde Licht aus Jonathans Vision strahlt aus ihnen heraus und erfasst den ganzen Raum. Weiße Orchideen sprießen überall aus den Wänden hervor und umtanzen das Paar in einem wiegenden Reigen. In seinem Glück wirbelt Jonathan die Orchideendame Emilia schwungvoll herum und löst dabei aus Versehen einen schweren, nachtblauen Stoff aus einem der Regale. Der Stoff sinkt auf die Emilias Schultern herab und mit einem Mal erlischt das strahlend helle Licht. Die Orchideen verblassen und die Werkstatt versinkt in bedrohlicher Dunkelheit. Doch Jonathan fürchtet sich nicht. Er begreift: die Dunkelheit ist Teil der Helligkeit. Beide Kräfte gehören zueinander. Seine Aufgabe ist es sie erneut in Balance zu bringen.

Der neue Mantel

Der dunkle Stoff ist das Material, aus dem die nachtblaue Seite des Mantels gefertigt ist. Die helle Seite ähnelt dagegen dem zarten Stoff, den auch Emilia trägt. Jonathan befreit Emilia von dem schweren Samtstoff und im selben Augenblick macht die bedrohliche Dunkelheit wieder dem sanften Tageslicht der Nachmittagssonne Platz. Er zieht den Zaubermantel hervor und betrachtet ihn nachdenklich. Der Mantel hat sich schon fast vollständig aufgelöst. Jonathan muss dringend mit der Arbeit beginnen und dem Mantel eine neue Gestalt geben. Emilia versteht sofort, was in Jonathans Kopf vorgeht. Sie war die Assistentin des alten Schneiders und kennt den Zauber des Mantels. Rasch ergreift sie Jonathans Hand und führt ihn zu einem mächtigen Webstuhl. Jonathan folgt ihrem Wink und nimmt auf der Weberbank Platz. Er hat keine Ahnung wie er die Stofffäden verknüpfen und einen neuen Mantel fertigen soll. Derlei Handwerkskunst hat er noch nie vollbringen müssen! Alles was er kennt ist das müßige Landstreicherleben. Doch er schämt sich seine Unwissenheit vor Emilia zuzugeben und zieht die Fäden zu sich heran. Den hellen Faden in der Rechten, den dunklen in der Linken tritt er auf das hölzerne Pedal. Sowie sein Fuß das Holz berührt, beginnt der ganze Webstuhl eifrig zu arbeiten und Jonathan beobachtet erstaunt wie seine Hände ganz von selbst mitarbeiten, die Fäden übereinanderlegen und genau im richtigen Moment zur Walze und zum Kettenbaum greifen. „Natürlich!“, ruft er aus, „Ein Zauberwebstuhl! Wie sonst ließe sich ein Zaubermantel fertigen!“ Er lacht fröhlich auf und vertieft sich ganz in seine Arbeit, erfüllt von dem Zauber, der seine Finger emsig tanzen lässt. So vergehen erst Minuten, dann Stunden. Die Nacht bricht herein, die Sonne geht auf. Als die ersten Sonnenstrahlen neckisch das zarte Kleid der weißen Orchidee kitzeln, springt Jonathan schließlich voller Stolz vom Webstuhl auf und hält den neuen Zaubermantel vor sich ausgestreckt in die Höhe. Im gleichen Moment löst sich der letzte Rest des alten Mantels vollständig auf und seine Kraft überträgt sich in das neue Gewand. Eine pulsierende Welle durchzieht seine Bahnen, als der Zaubermantel in neuer Gestalt zum Leben erwacht. In einer spiralförmigen Pirouette saust er hinauf, lässt sich wieder fallen, wirbelt um Jonathan und Emilia herum und kommt schließlich schwungvoll vor dem Paar zum Stehen. Feierlich fassen sich die drei Helden unserer Geschichte an den Händen. Sie spüren die Kraft des Mantels, die Balance und die Harmonie, die er in sich vereint und den Schutz, den er allem Leben auf der Erde schenkt.

Der neue Schneider

Wenn Jonathan sich an seine Zeit als Taugenichts und Weltenbummler zurückerinnert, kann er über seinen alten Gleichmut und seine ziellosen Wanderungen nur noch staunen. Welch ein Glück war die Begegnung mit dem Zaubermantel doch für ihn gewesen! Wie gut hat er es nun, da er in die Fußstapfen des alten Schneiders getreten ist, den Zaubermantel und Emilia stets an seiner Seite. Schön ist die Arbeit am Webstuhl und auf dem Schneiderkissen, umgegeben von den herrlichsten Farben und prächtigsten Stoffen. Mit großem Eifer hat er sich nach der Fertigung des Zaubermantels sofort in sein neues Handwerk gestürzt. Wunderbare Gewänder hat er gefertigt, stets behaftet mit einem leichten Schimmer des Mantelzaubers, auf das die Kraft seines Begleiters in die Welt hinausgetragen werde. Ja, Jonathan führt heute ein ausgefülltes und zufriedenes Leben. Und wer auch immer eines Tages in seine Fußstapfen treten wird, der darf sich wahrlich glücklich schätzen.